Die Geheimnisse von St. Petersburg. Eine Reise von Go-East für GEO Saison, Das Reisemagazin

Vorwort von Go-East:

Die nachfolgend beschriebene Reise haben wir für den Reporter der Geo Saison organisiert, ohne dass wir über diesen Hintergrund der Reiseanfrage gewusst haben. Mit der freundlichen Erlaubnis des Reisemagazins dürfen wir nun den in der Geo Saison-Ausgabe vom Dezember 2007 publizierten Artikel auf unseren Internet-Seiten für Sie präsentieren.

Die Geheimnisse von St. Petersburg

Was nur wenige wissen:
Man kann das schönste Museum der Welt auch in aller Stille genießen – außerhalb der offiziellen Öffnungszeiten. Und das ist nur eine von vielen verborgenen Attraktionen in der Zarenstadt.

Ein letzter Hauch der Nacht ist spürbar in den weiten, menschenleeren Räumen, ungeatmet stehen die Luft und der matte Geruch von Bohnerwachs in den Hallen. Die Morgensonne, im sommerlichen St. Petersburg bereits hoch am Himmel, greift mit hellen Fingern durch die weißen Vorhänge als wolle sie, sehnsüchtig, die kunstvollen Gemälde berühren. Es herrscht die Stille einer Meditation. Doch draußen rollen bereits die Geschwader der Busse heran, und vor dem Eingang wachsen die Menschenschlangen.

Die Geheimnisse von St. Petersburg. GEO Saison Ausgabe 12/2007
Die Geheimnisse von St. Petersburg. GEO Saison Ausgabe 12/2007

Aber noch werden sie nicht eingelassen, die tausende, die zehntausende, die Tag für Tag dieses prächtigste Museum der Welt besuchen: drei Millionen Gemälde, Statuen, Schmuckstücke in einem Palast, der auch ohne Ausstellung, allein durch die Kraft seiner Architektur, zu den meistbesuchten Sehenswürdigkeiten der Welt gehören würde. Nur ein paar hundert Besucher verlieren sich jetzt auf den kilometerlangen Gängen.

“Früheinlass” nennt sich dieses Privileg, das nicht jedem zugänglich ist: Nur wer sich rechtzeitig um Karten bemüht, wer Glück hat und jemanden kennt, der die richtigen Verbindungen hat, betritt die Eremitage eine Stunde vor allen anderen – und hat ganze Räume für sich allein. Meist teilt man das Museum dann nur mit den Gästen von Kreuzfahrtschiffen, die in St. Petersburg festgemacht haben. Die Kosten für den Früheinlass: 100 Euro, manchmal erheblich mehr. Man sollte Spezialveranstalter mit dem Kartenkauf beauftragen, und zwar mindestens zwei Monate vor Reisebeginn.

Auch viele andere Museen der Welt gewähren Eintritt jenseits der offiziellen Öffnungszeiten: die Sixtinische Kapelle etwa und die Vatikanische Museen in Rom, das Metropolitan Museum in New York. Mal kostet die Exklusivität horrende Summen – der Pariser Louvre etwa verlangt für einen privaten Abend rund 22000 Euro -, mal kostet sie kaum mehr als ein normales Ticket. Aber stets bietet sie ein unvergessliches Kunsterlebnis.

In der Eremitage, im ältesten Teil des Museums, im Winterpalast, knarzt das intarsienverzierte Parkett. Es ist das einzige Geräusch, keine Stimme ist aus den anderen Räumen zu hören, wo sich sonst Reisegruppen drängen. Noch hat keine Wärterin Platz genommen, mein Guide hält sich im Hintergrund, so bin ich allein mit den heiteren Landschaften des 18. Jahrhunderts, mit biblischen Szenen und dem seligen Optimismus der Aufklärer.

Der Philosoph Diderot, als Marmorbüste, neigt den Kopf, Voltaire, dieser Spötter, reckt die Charakternase, ein milchgesichtiger Junge schaut mit frechem Grinsen zu – diese Räume hat Katharina die Große besonders geliebt. Hierhin hat sich die Zarin in jene Einsamkeit zurückgezogen, die ihrer Kunstsammlung den Namen gegeben hat: Eremitage, Einsiedelei. Erst lange nach ihrem Tod wurden die Säle dem Publikum geöffnet und zum Museum gemacht, im Jahr 1917 war das.

An diesem Morgen erahne ich das Glück der Zarin, diese stille Intimität mit den Kunstwerken, von der nur Herrscher und Sammler wissen. Eine halbe Stunde lang fühle ich mich wie einer von Ihnen, bin ich ein Flaneur, der mit jedem Schritt weiter zurückgeht in der Zeit, in ein Privatissimum mit der Geschichte und den Kunstwerken. Dann treibt es mich weiter in andere Säle, durch die große Rotunde, in die berühmte Raffael-Loggia und in Anthonis van Dycks Reich. Zweimal kreuzen einige Menschen meinen Weg, doch die Stille und die Freude, das Museum wie ein König zu erleben, werden nicht gebrochen. Das also verbirgt sich hinter dem harten Wort “Früheinlass”: die Chance, Kunst ganz neu und unvergleichlich intensiv wahrzunehmen.

Bernsteinzimmer, St. Petersburg, Eremitage, mit freundlichenGenehmigung von GEO Saison, Das Reisemagazin, Ausgabe 12/ 2007
Bernsteinzimmer, St. Petersburg, Eremitage, mit freundlichenGenehmigung von GEO Saison, Das Reisemagazin, Ausgabe 12/ 2007

Die Eremitage hat aber noch mehr Geheimnisse. Etwas außerhalb des Zentrums erhebt sich das hochmoderne Lager des Museums: hier werden jene Schätze verwahrt, die in den Ausstellungsräumen keinen Platz mehr finden – auf konstante 21 Grad und 60 Prozent Luftfeuchtigkeit klimatisiert und bestens gesichert gegen Diebstahl und Brände. Viermal täglich öffnet sich das hermetische Gebäude, und Führungen gewähren Einblick hinter die Kulissen des Museums. Nur wissen die wenigsten Besucher St. Petersburgs davon. Und erfahren daher nicht, dass der schlimmste Feind der Kunstschätze der Mensch ist. Sein Atem und sein Schweiß, aber auch der Staub, den er aufwirbelt, ruinieren jede Kunst.

Deshalb wird der Mensch hier hinter Glass gebannt, nur durch Panoramascheiben darf er die Gemälde, die Skulpturen, die Teppiche bestaunen. Eine riesige, golddurchwirkte Jurte etwa, Gastgeschenk des türkischen Sultans an den Zaren, überspannt ein Glaskubus; in diesem stehen die Besucher wie in einem Labor und hören das Atmen der Klimaanlage. Dieses Lager ist der klinische Zwilling der Eremitage, ein Sanatorium für die Kunst – und eine faszinierende Rarität.

Doch die Masse der Touristen ist anderswo. Nach der Eremitage ist das Katharinenschloss südlich von St. Petersburg das populärste Ziel der Besucher. Denn dort, im ersten stock, schimmert honiggelb und von einem milden Harzhauch erfüllt das Bernsteinzimmer. Der Nachbau des legendären, nach dem Zweiten Weltkrieg verschollenen Raums wurde vor vier Jahren fertiggestellt und zieht seither über 1,5 Millionen Besucher jährlich an. Auf blauen Wegwerfsocken rutschen sie über die Parkettböden, doch viel Zeit bleibt nicht vor den Bernstein-Intarsien, schon drängen die nächsten Schaulustigen nach und füllen den Raum mit aufgeregtem Geflüster.

Nur ein leises Surren hingegen umgibt Sergej Kaminsky. Er sitzt an seiner winzigen Werkbank und fräst aus einem Bernsteinplättchen einen filigranen Blütenzweig. Eine Wolke feinsten Staubs tanzt im Neonlicht. Achtzig Prozent des Steins, erklärt er, gehe bei der Verarbeitung verloren. Knapp sechs Tonnen Bernstein mussten gefördert werden, um daraus die zarten Panele des Zimmers zu fertigen.

Kaminsky muss es wissen, denn er ist einer jener
Handwerkskünstler, die das Bernsteinzimmer neu erschaffen haben. Der 56-Jährige kennt die Geheimnisse des Steins und weiß, wie schwer es war, das Wunderzimmer wieder zum Leben zu erwecken. Und erst wenn man mit ihm spricht, bekommt das Zimmer eine Geschichte, eine Persönlichkeit. Dabei ist es nicht schwer, zu Sergej Kaminsky vorzudringen; Spezialveranstalter führen Gruppen zu ihm, auch Einzelbesuche sind möglich in diesem Gral der Bernsteinkünstler. Man muss nur wissen, dass es diese Werkstatt gibt und dass sie für angemeldete Besucher zugänglich ist, hier in einem flachen Flügel, in dem früher die Bediensteten des Katharinenschlosses wohnten.

Welche Mühen es gekostet hat, das Bernsteinzimmer wieder zu erschaffen – Kaminsky deutet sie nur an. Als die Handwerker in den siebziger Jahren begannen, wussten sie nichts über den Stein. Sie fingen bei Null an, Experten gab es nicht mehr. Wie schneidet, wie färbt, wie klebt man den Stein? Sie unternahmen unzählige Experimente, um das versteinerte Harz zu erforschen, es kennen, ja: lieben zu lernen.

Und je länger sie experimentierten, desto simpler wurden ihre Methoden. Am Ende kamen sie beim Einfachsten an: Neben Kaminsky Werkbank steht ein alter Campinggrill – darauf wird der Stein gefärbt. Daneben liegen einige Zahnbürsten – damit wird er gereinigt. Man traut seinen Augen kaum: Der legendäre Bernsteinraum, dieses politisch hochbrisante Wunderzimmer – es ist entstanden wie eine Modelleisenbahn, erschaffen mit den Mitteln eines Hobbybastlers. Wer das gesehen hat, geht mit noch größerer Ehrfurcht in das Schloss zurück und sieht, was die anderen Besucher nicht einmal erahnen können.

Und wer jetzt Geschmack daran gefunden hat, hinter die Kulissen zu schauen, findet in einer Stadt wie St. Petersburg, je nach Interesse, viele weitere versteckte Attraktionen. Für Liebhaber des Tanzes öffnen einige der besten Ballettschulen Russlands ihre Pforten; Uhrensammler finden einmalige Kollektionen; Literaturbegeisterte touren auf Dostojewskis und Puschkins Spuren; Theaterfans schauen hinter die Bühne des legendären Mariinsky-Theaters; und wer russischen Alltag aus nächster Nähe erleben will, der lässt sich in eine Komunalka führen. So heißen die überfüllten Gemeinschaftswohnungen, in denen ein großer Teil der Petersburger seit der Oktoberrevolution lebt.

Mein Guide nimmt mich zu Juli Rybakov, einem bekannten Künstler, der zuweilen Besucher empfängt. Ihn treibt, anders als Kaminsky, nicht die Vergangenheit der Stadt um, er engagiert sich für ihre Zukunft. Rybakov setzt sich dafür ein, dass ein städtisches Gefängnis, aus dem die Insassen demnächst in ein neues Gebäude verlegt werden, zu einem Museum der Modernen Kunst umgebaut wird. Ein solches fehlt der traditionsgebundenen Stadt. “Es ist so viel Böses im Gefängnis passiert, das wäre der endgültige Triumph der Kunst über die Macht”, sagt Rybakov. Es ist ihm ein besonderes Anliegen, denn er selbst hat in den Zellen gelitten, als politischer Gefangener des KGB. Die Staatsmacht hatte den Künstler 1977 zu sechs Jahren Haft verurteilt, wegen einer nicht genehmigten Kunstausstellung.

Jetzt reißt er eine Kekspackung auf und stellt sie auf einen winzigen Couchtisch, schenkt Tee aus einer verbeulten Thermoskanne nach und lässt sich vor einem seiner vielen Bilder nieder. Das Atelier ist karg, aber mit Computer und Plotter ausgestattet, denn inzwischen verbindet der 61-Jährige Ölmalerei mit Photoshop. Überhaupt hat er nie auf einen Stil festlegen wollen, an den Wänden hängen Surrealismen, Abstraktionen und Figürliches in undurchschaubarer Folge.

Nachdem Juli Rybakov aus dem Gefängnis entlassen worden war, machte er weiter, wo er aufgehört hatte. Und da die Zeiten milder wurden und schließlich die politische Erstarrung in Gorbatschows Glasnost auftaute, besetzte er mit Freunden ein prächtiges Gebäude gleich hinter dem Moskauer Bahnhof und verwandelte es in die Kunstfabrik “Pushkinskaya”. Hier arbeitet er noch heute, auch wenn er mittlerweile im Nebenberuf Politiker ist, sich mit Präsident Putin anlegt und die Menschenrechte in Russland einklagt. Der wache, trotzige Blick des Künstlers, sein unbeirrter Mut erzählen eine ganz andere Geschichte als die Museen und Monumente der Stadt.

Juli Rybakov nimmt ein frühes Kunstwerk aus dem Regal. Es zeigt ein Mikroskop, dessen Vergrößerungslinse er durch eine Pistole ersetzt hat. Der Lauf zeigt auf ein Hühnerei. Der Titel des Werks lautet “Älterer Bruder”. Rybakov schmunzelt und verabschiedet uns in einen kupferglühenden Sonnenuntergang. Es ist kurz vor elf Uhr abends, und in den Straßencafés staunen die Menschen zum Himmel hinauf.

NORBERT NEUMANN

Die Reise nach St. Petersburg hat Go East Reisen organisiert; nicht jeder Programmpunkt ist jederzeit buchbar, vor allem der Früheinlass nicht, manches erfordert längere Vorausplanung. Die fünftägige Reise kostet samt Flug, Hotel und vielfältigem Programm ca. 1720 €. Go East Reisen, Hamburg, Tel. 040-8969090, www.go-east.de